Leseprobe - Ganz Da Sein Wenn Ein Leben Endet
Aus Kapitel 3 AM BETT PRÄSENT
“Charles, ein Mann in den Siebzigern, war einer meiner ersten Hospizpatienten. Ich hatte den Nachmittag über bei ihm gesessen und ging am Ende meiner Arbeitszeit nochmals zu ihm. Es war ein später Sommertag, und ich erinnere mich noch daran, wie die rötlichen Schatten der untergehenden Sonne das Zimmer ausfüllten und seine dunkle Haut berührten. Seine Augen waren geschlossen, und er sprach leise und machte immer wieder lange Pausen, um Luft zu kriegen. Ich saß still an seiner Seite und hörte zu. Ich kenne diesen alten Mann nicht, dachte ich. Ich hatte ihn lediglich ein paar Mal zuvor gesehen. Wir waren zwei Fremde, die in diesem vergänglichen Augenblick beieinander waren. Ich nahm seinen gebrechlichen Körper wahr und fühlte mich traurig, aber auch voller Zärtlichkeit.
Als ich versuchte, meine Hand sanft aus seiner zu lösen und mich auf meinem Stuhl in den Schatten des Raumes zurückzulehnen, um mein Gesicht und meine Gefühle zu ver-bergen, wandte er sich mir plötzlich zu und öffnete die Augen. Es fühlte sich an, als wäre ich geradewegs in ein loderndes Feuer gelaufen. Nicht weglaufen. Lauf einfach nicht weg.Bleib, sagte eine innere Stimme. Wortlos zog er meine Hand auf seine Brust und hielt sie dort sanft fest. Ich konnte die Knochen unter seiner Haut spüren, seinen Herzschlag. In diesem Moment wurde mir klar: Das ist es, was es bedeutet, präsent zu sein. Nicht weglaufen, sondern bleiben, auch im heftigsten Feuer. Ich bewegte mich etwas nach vorne, weg aus dem Schatten, damit er mein Gesicht sehen konnte. Mein Herz brannte, aber in dessen Mitte war es unerwartet still. »Ich bin traurig. Ich bin hier«, sagte ich zu ihm. Er drückte sanft meine Hand und antwortete: »Gut. Gut.« Mit seiner kleinen Geste, meine Hand auf seine Brust zu legen, und seinen freundlichen, kurzen bestätigenden Worten – durch seine Präsenz also – lehrte mich Charles, wie ich für andere präsent sein kann. Er zeigte mir, dass es in Ordnung ist, sich verletzlich zu fühlen und trotz-dem da zu sein. Er brachte mir bei, wie man bleibt, wenn man versucht ist, wegzulaufen, wie man offen bleibt, auch wenn man traurig oder ängstlich ist.
Leben und Sterben geschehen im gegenwärtigen Moment. An einem Sterbebett zu sitzen ist eine ständige Erinnerung daran, im Moment zu bleiben, sich zu entschleunigen und zu sein. Sterbende Menschen verlieren ihre ganze Welt und können kränker sein, als sie es je in ihrem Leben waren. Sie sind vielleicht nicht mehr in der Lage, klar zu denken, alltägliche Aufgaben zu erledigen…”
aus Kapitel 3 Kirsten DeLeo, Ganz da sein wenn ein Leben endet